In zehn Jahren ziehen statistisch gesehen alle Berliner Haushalte einmal um. Das Amt für Statistik registrierte im Jahr 2023 in Berlin rund 188 000 Zuzüge und 155 000 Fortzüge. Zahlen können spannend sein, auch wenn man Schwankungen mit bedenken muss. Laut einer „Umzugsstudie“ von Deutschen Post Adress ziehen jedes Jahr etwa achteinhalb Millionen Menschen um. Das sind mehr als 23 000 am Tag. Über sechshundert Unternehmen haben sich allein in Berlin auf diesen hohen Bedarf eingestellt. Es ist ein interessanter abwechslungsreicher Job, wie Klara Schmidt*, zuständig für Kundenberatung, Abrechnung und Vororttermine einer Berliner Umzugsfirma mitteilt
Klara Schmidt ist einmal im Leben umgezogen. Dies vor vierundzwanzig Jahren von Mitte in den Prenzlauer Berg. Obwohl die Zweizimmerwohnung längst zu klein ist, ist sie dort geblieben. Seit ein paar Jahren arrangiert sie viele Umzugsfragen und kann von „Messie“-Wohnungen und versäumter Zahlung berichten, von Privatumzügen, die den Hauptteil ausmachen und von Firmen- und Studentenumzügen. Jeder Umzug hat seine Spezifik. „Vor zwei Wochen mussten von einer älteren Dame dreitausend Bücher verpackt werden. Das sind zweihundert Kisten. Die schwere Trägerarbeit erledigen ausschließlich Männer, oft Hilfsarbeiter, deren Leistung in der Gesellschaft so wenig Aufmerksamkeit erfährt wie jene der Pflegekräfte“, erzählt sie.
Manche Menschen wie Klara Schmidt, die ihren Umzug „mit Mutter und Mann“ noch selbst bewältigte, „viele Treppen auf und ab“, sind gerade einmal, andere mehr als zwanzig Mal in ihrem Leben umgezogen. Manche nur in die Nachbarschaft. Andere wechseln Städte und sogar länderübergreifend ihren Lebensmittelpunkt, sei es der Arbeit wegen, der Liebe, der Kinder oder Eltern oder weil es einfach glücklich macht, woanders zu sein. „Ich weiß nicht, ab dem wie vielten Mal sich Routine einstellt, sich der Hausrat bereits zuvor schon auf potenzielle Umzüge eingestellt, sprich so reduziert hat, dass es keine Mühe mehr macht, sich für die Dinge, die ins neue Zuhause mitwandern, entscheiden zu müssen.“ Am Anfang einer Umzugskarriere wird zumeist selbst leidenschaftlich gepackt, stehen Umzugskartons bis zum endgültigen Transport im Weg und verharren auch im Neuen, ehe alles wieder am richtigen Platz ist. Das Ein- und Auspacken ist zugleich ein Ein- und Aussortieren, ein Abenteuer voller Entdeckungen: da ein alter Brief, der gelesen werden will, dort ein so putziges Shirt, welches nie getragen wurde, aber irgendwie zum Wegschmeißen schon immer zu schade war und die alten Skihandschuhe ...
Es ist ein Abwägen und Neubewerten, das sich neben Beruf und oftmals auch der Kinderbetreuung hinzieht. Vom Einzug an gilt ein halbes Jahr als „goldene Regel“ für die Zeitspanne, bis die neue Behausung keine Spuren des Umzugs mehr aufweist, alle Bilder neu positioniert sind, Lampen statt Glühbirnen überm Tisch hängen, Regale einsortiert sind und Grünpflanzen sich vom Schock erholt haben sowie alle Kartons wieder zerlegt und weggeschafft sind.
„Uff“, möchte man nur bei dem Gedanken daran machen, sich die Stirn wischen und sich ins neue, endlich bequeme und schicke Sofa fallen lassen und bitte Kinder, nicht gleich mit den Malresten an den Fingern die Wände entlang streichen! Die Schuhe bitte ausziehen, ehe die Dielen betreten werden! Ist das nur ein Wunsch im Geheimen oder schallte es gerade als selbstgeprochene Anweisung Richtung Eingangstür? Das Neue verlangt nach Sorgfalt. Seine Aura soll noch anhalten. Der Alltag kommt ja schnell genug!
Es gibt auch eine andere Umzugslösung und im Laufe des Lebens und abhängig vom Geldbeutel nimmt die professionelle Variante an Bedeutung zu. Die Umzugsfirma der Wahl kommt, fotografiert und notiert, packt am Wunschtermin alles wie von Zauberhand ein, montiert ab, transportiert, schleppt, packt aus, baut auf, verstaut mit Hilfe von Fotos und Skizzen – fertig ist die neue Wohnung. Wenn dann eine historische Chinavase zu Bruch gegangen ist, hilft die Versicherung zumindest über den pekuniären Schmerz. Was aber wenn das Lieblingsalbum aber auf der Strecke bleibt ...
Mein erster Umzug war ein Statement, für alle Nachbarn seh- und hörbar: Die verlässt Ihr Elternhaus! Mit einem Handwagen aus Holzplanken über Kopfsteinpflaster, beladen mit einem Gründerzeitsekretär, einem Stuhl, einer übergroßen Zeichenmappe und noch so dies und das: zwei Fuhren wenige Häuser weiter in ein Gartenhaus. Es glich eher einer Performance und schien sich im beginnenden zwanzigsten Jahrhundert abzuspielen, fand aber in seiner vorletzten Dekade statt. Der erste Auszug endete mit eingefrorener Wasserleitung im Januar und der Rückkehr in die Behaglichkeit des elterlichen Einfamilienhauses. Später ging’s nach Berlin und wieder zurück und wieder nach Berlin und hin- und her und irgendwann gab es soviel zu verstauen, dass ein Depot als Zwischenlösung herhalten musste.
Die Anpassungsfähigkeit des Menschen ist erstaunlich auch im Kleinen! Es ist keine große Mühe, sich an den Anblick der ockerfarbenen Umzugskartons zu gewöhnen, seien diese nun zu Säulen aufgestapelt oder horizontal gereiht. Ihr letztes Domizil ist, wenn man ihn hat, der Keller und darin neigen sie zum vieljährigen Überwintern samt der Zeitungen, die wenn man sie je auspackt, an die Wirren der Welt von Gestern erinnern, an die Bücher, die, wenn man sie je auspackt, den Schauer der einstigen Lektüre wieder erwecken sollen, samt der Kinderspielzeuge, die ja gewiss Enkel erfreuen könnten, samt des Porzellans der Schwiegereltern, welches womöglich der Hingucker eines zukünftigen Trends werden könnte.
Wie schön ist dagegen die noch frisch geweißte neue Wohnung, sind die leeren Räume. Wie bezaubernd ist die Leere! Ein Versprechen. Ein Anfang. Die Leere mit ihrer Aura. Mit ihrer Ruhe. Selten gibt es diesen privaten Moment des Raumerlebens ohne Störgeräusche für die Sinne. Nur radikale Puristen und Menschen mit mehr als eben genug Raum können das Gefühl der Leere beibehalten bzw. mit reduzierter Möblierung sublimieren.
Um dieses Gefühl der Ruhe und Klarheit mehr Menschen zu ermöglichen, haben Aufräumberater Konjunktur. Zuerst wurde die Japanerin Marie Kondo mit ihrer Räum- und Sortiermethode Kon Marie populär. Ausmisten gilt als Kulturhandlung zur Rettung vor Konsumerschöpfung. Es geht vor allem darum, Entscheidungen treffen zu können, sich nicht nur von alten Mänteln und Jacken zu trennen, sondern erst recht von der inneren Stimme, die all das einmal Erworbene zur dauerhaften, ja lebenslänglichen Aufbewahrung empfiehlt. Andere folgten wie Gunda Borgeest, die ihre Leidenschaft für die Ordnung der Dinge zu ihrem zweiten Beruf machte. Die studierte Literatur-wissenschaftlerin und Sinologin gründete ihre Firma „Schönste Ordnung“ und schrieb den Bestseller-Ratgeber „Ordnung nebenbei“. Wichtig: nicht alles, was man hat, muss zur Schau gestellt werden. Schöne Gruppierung, effektvolle Solitäre und rhythmische Reihungen geben dem Auge Halt. Maßhaltung ist eine Königsdisziplin. Farbensembles zu kreieren, kann man lernen – und wird es genießen.
Ein Umzug lässt sich als übergreifendes Neusortieren begreifen, gar als die Chance zum Tabula rasa – allerdings auch mit Nebenwirkungen: Einen Umzug erahnt man in Berlin meist schon Wochen vorher. Dann lagern nämlich in täglicher Abwechslung aussortierte Bücher, Tüten mit Kleidungsstücken, Hausrat vom Küchensieb bis Elektronik, selbst Matratzen oder ein Ikea-Stuhl vor der Haustür und der geräuschlose Eigentümerwechsel hinterlässt beredte Spuren.
*Name geändert
Gunda Borgeest, Ordnung für immer,
ISBN: 978-3-7471-0836-9 176 S., 19,99 Euro