Was wäre eine Stadt ohne ihre Plätze. Manche sind groß, manche klein. Manche berühmt, manche unbekannt. Sie sind quirlige Touristenattraktionen oder lauschige Rückzugsorte für die Stadtbewohner. Plätze in der Stadt haben ihre Geschichte und kleinen Geheimnisse, die es zu ergründen lohnt.
Brecht hat mal wieder Damenbesuch. Claudia hat sich auf die Bronzebank gesetzt, die zu der Plastik des Dichters vor dem Berliner Ensemble gehört. Claudia kommt von weit her, ist 21, Studentin aus Lima in Peru. Sie ist zum Theatertreffen nach Berlin gekommen und noch ein bisschen geblieben, hat Arturo Ui gesehen und heute schaut sie sich die Dreigroschenoper an, die 1928 hier erstmals aufgeführt wurde und furiose Erfolge feierte. Claudia lehnt sich an Brechts Schulter, sie verehrt den Meister des Theaters, das hätte Brecht gefallen. Nur das kunstvolle Piercing an Claudias Unterlippe würde ihn womöglich ein wenig irritieren.
Seit 1988, Brechts 90. Geburtstag, steht das Denkmal auf dem Bertolt-Brecht-Platz vor dem Theater am Schiffbauerdamm. Fritz Cremer hat es gestaltet, ein berühmter Bildhauer und Freund von Brecht. Beide kannten sich von einem Zusammentreffen in London 1936, Cremer soll Brecht zugeraten haben, nach dem Krieg nach Ostberlin zu kommen und hier Theater zu machen. Später entwarfen sie gemeinsam die Figurengruppe des Buchenwald-Mahnmals und gewannen den Wettbewerb, ihr Entwurf musste aber auf staatliche Anordnung mehrfach überarbeitet werden, ehe Cremers Denkmal dann in der Gedenkstätte bei Weimar aufgestellt wurde. Cremer war auch dabei, als einer seiner Schüler Brecht nach seinem frühen Ableben die Totenmaske abnahm.
Die Fläche vor dem im 19. Jahrhundert errichteten Neuen Theater war ursprünglich die Einmündung der Straße „Am Zirkus“ in den Schiffbauerdamm, denn an der Nordseite des heutigen Platzes befand sich ab 1873 ein festes Zirkusgebäude mit bis zu 8 000 Plätzen. 1919 wurde das Gebäude unter dem legendären Regisseur Max Reinhardt zum Großen Schauspielhaus. 1934 erhielt es den Namen „Theater des Volkes“, Operetten wurden darin aufgeführt. Nach dem Krieg hatte ab 1947 hier der Friedrichstadt-Palast seinen Ort, aber 1980 wurde das Gebäude wegen der verfaulten hölzernen Fundamentpfeiler geschlossen und 1985 abgerissen. Der Friedrichstadt-Palast erhielt ein paar hundert Meter weiter ein neues Haus.
1954, mit dem Umbau des Theatergebäudes zum Berliner Ensemble, wurde der Vorplatz ausgeweitet, eine Rasenfläche angelegt, Bäume gepflanzt. 1963 erhielt er Brechts Namen. Heute reicht der Platz bis ans Ufer der Spree. Aber das könnte sich ändern, denn so eine Fläche mitten in der Stadt weckt Begehrlichkeiten. Am Zirkus 1, wo einst das Theater des Volkes lag und nach der Wende lange eine hässliche Stadtbrache, steht seit ein paar Jahren das „Yoo Berlin“, ein Luxus-Apartmenthaus mit Swarovski-Kronleuchtern in der Lobby, Concierge, Swimming Pool, Ausstattungselementen in Platin und Bronze, in dem ein Penthouse für 6,25 Millionen Euro, 25 000 pro Quadratmeter, feilgeboten wurde. Ein Angebot für ausländische Investoren, die die Hälfte der Wohnungen gekauft haben. Und kaum da sind.
Dafür wurde an dem Platz vor dem Gebäude kräftig gespart, Brecht ist von grauem Schotter statt Marmor umgeben, und anfangs hat es nicht einmal für ein paar Bänke gereicht. Ein Platz ohne Idee. Ohne Leben. Das spielt sich um die Ecke ab, an der Spree, auf der „Meile“ zwischen den Restaurants „Ganymed“ und „Ständige Vertretung“.
Ein anderer Investor hat schon weitere Baupläne für den Brecht-Platz, einen Riegel will er um den Platz bauen, der ihn vorn abtrennt vom Spreeufer. Nicht nur die Bewohner der Luxusherberge, denen der schöne Weitblick abhanden kommen könnte, sind alarmiert. Die Stadtbaudirektorin, erzählt der Investor, hätte jedenfalls ein offenes Ohr. Sein Haus, schwärmt er, soll neben vielen schönen Wohnungen – „Berlin braucht doch Wohnraum“ – einen frei zugänglichen Dachgarten haben und unten eine Galerie, in die er den alten Mercedes von Helene Weigel, Brechts Ehefrau und nach seinem Tod noch lange Theaterintendantin, stellen will – „wegen der Verbindung zum Berliner Ensemble“. Vor sich hin lächelnd schaut Brecht – noch – auf die Spree; er kennt sie ja, diese Schachereien, hat sie oft verdichtet.
Claudia aus Peru ist zur Dreigroschenoper ins Theater verschwunden, der Platz neben Brecht ist frei. Eigentlich könnte die Weigel dort sitzen. Sie gehört neben ihn, hat ihn, trotz seiner vielen Weibergeschichten, ein Leben lang begleitet, bekocht und beraten, aber vor allem hat sie seine „Mutter Courage“ gespielt und viele Jahre das Berliner Ensemble am Platz geführt. Helene Weigel auf die Bank neben Brecht! Und den Platz vor ihrem Theater in Brecht-Weigel-Platz umbenennen. Passt doch in die Zeit.
Wahrscheinlich zu spät. Helene Weigel hat, so wollten es die Stadtoberen im frauenfördernden Ostberlin, seit 1978 ihren eigenen Platz. Der ist groß und weit, aber auch weit, weit weg von Berlins Mitte, in Marzahn. Dort gibt es einen Wochenmarkt und ein Rathaus, aber kein Theater. Und das Kino „Sojus“ hat nach 28 Jahren zugemacht. Ein geschichtsloser Ort, der zu Helene Weigels Zeit noch nicht einmal existierte und nichts zu tun hat mit der Frau. Ungerecht ist die Welt. Aber das wusste die Weigel.