Das Berliner Zimmer: Ein Phänomen

Praktisch, funktional, flexibel
Wohnen

Berliner Zimmer? Ist damit eine Metapher oder ein realer Raum gemeint? „Beides!“, schreibt Jan Herres in seinem beim Jovis-Verlag erschienenem Buch über ein Phänomen der Berliner Mietshausgeschichte. Das Berliner Zimmer ist eine preußische Baulösung und Raumerfindung, die vor allem im Gründerzeit-Berlin zur Blüte gelangte. Im fein sanierten Bestand findet der ambivalente Raum wieder Liebhaber und im Neubau sogar eine Wiederentdeckung 

Ein typisches Berliner Zimmer in Prenzlauer Berg: Das frühgründerzeitliche Haus, schon fast in Mitte gelegen, hat Jahrzehnte Mieter- und Eigentümergeschichte hinter sich und viele Veränderungen seines Grundrisses erfahren. In der DDR-Zeit wurden die Wohnungen verkleinert, „Aus eins mach drei!“, um dem Wohnungsbedarf, der in Ost wie West in den Endsiebzigern enorm anwuchs, gerecht zu werden. So wurde das zur Wohnung gehörende Durchgangszimmer einer anderen Wohneinheit zugeschlagen. Mit der Sanierungswelle in den 1990er kam es zu einem Rückbau der kleinen Wohnungen: „Aus drei mach zwei!“ und das „Berliner Zimmer“, das erstmals 1870  in Bauverordnungen seinen Namen erhielt, wurde wieder sichtbar gemacht. In seiner Entstehungszeit galt es als ein Scharnierraum, der die Vorderhausräumlichkeiten  mit Salon und Guter Stube mit jenen des Seitenflügels, der zumeist L- oder U-förmigen Blockrandbebauung samt Hinterhofverdichtung verschränkte. Ein Raumgewinn, der heute wieder im Gespräch ist. 

In der Prenzlauer Berger Wohnung konnten ein schmaler Flur, dazu ein sehr schmales Bad und ein Schlafzimmer Richtung Hof im Zuge der Sanierung und in Anlehnung an den historischen Grundriss zurückgewonnen werden. Es machte Spaß, in einer Wohnung um die Ecke zu gehen, einen Richtungswechsel zu erleben, andere Blickachsen zu haben. In den Neuzigern wurde hier allerdings verkleinert und eine neue Idee eingebracht:  Eine Leichtbauwand trennte die einstigen Durchgänge quer und längs durch das Eckzimmer ab, um es funktional zu beruhigen. Ein Flur wurde gewonnen, der den Raum L-förmig umschloss. Statt drei Türen verblieben zwei. Ein Tisch, drei Stühle. Der Restraum mit einem Fenster in der Ecke in Richtung Hof diente nun als Küche. Immerhin Südseite! Das Fenster ließ ob seines schmalen Ausschnitts und der Geschosshöhen rundum trotzdem nur sehr begrenzt Licht hinein. Manchmal landete eine Taube auf dem Gesims. Der Lavendel auf der Fensterbank ähnelte einer Bürste. Der entstandene Korridor konnte von der dreiköpfigen Familie mit Kleinkind als Rennstrecke für Dreirad und Roller genutzt werden. Um ihm die Dunkelheit zu nehmen, wurden wenige Hängekuben aus Plexiglas platziert und alles von Deckenspots, damals beliebten Sternenhimmel beleuchtet. 
 

Ein Durchgangsraum mit wenig Licht

Der deutsche Philosoph Friedrich Engels hatte sich 1873 beim Besuch seines Freundes, dem Arbeiterführer Wilhelm Liebknecht, in dessen Charlottenburger Wohnung über die Lichtlosigkeit des Berliner Zimmers in einem Brief abfällig und entsetzt geäußert: „Hier in Berlin hat man das Berliner Zimmer erfunden. Kein Licht, unzureichende Belüftung, eine Unmöglichkeit! Nein Danke!“, war sein lakonischer Kommentar. Wer in den Siebzigern die Panoramablicke aus weißen Einfamilienhäusern gewöhnt war, mag seelisch gesehen, den Kopf eingezogen haben, wenn er sich plötzlich in der Wohnhöhle, also im Berliner Zimmer, und sei es als Gast, wiederfand. Und trotzdem feiert diese etwa um 1820 bis 1925 gebaute Raumbesonderheit ihr Comeback und zwar bereits das zweite. Das erste war bereits nach der Internationalen Bauausstellung 1984 im Westen Berlins, von der jener Impuls zur „behutsamen Rekonstruktion des Altbaubestandes“ ausging.  Bald zelebrierten vor allem Studenten den eigenwilligen Raum als Treffpunkt ihrer Wohngemeinschaften fantasievoll oder ramschbeladen. Matratzen, ein Ledersofa, Fahrradabstellplatz, Sammelstelle für Flaschen, eine verkümmerte Yuccapalme, eine psychedelische Lampe. So lebt das Klischee bunt fort. Das zweite Comeback kam mit den Mietshaussanierungen in der Nachwendezeit und rückt gerade noch einmal mehr in den Blickpunkt modernen großstädtischen Wohnens.
In der Prenzlauer-Berg-Wohnung entschieden sich die Bewohner in den 2010er- Jahren für mehr Offenheit, mehr Licht mit der Funktion als Treffpunkt mit sich kreuzenden Wegen. Die Leichtbauwand musste weg, die Wege blieben. Das Fenster konnte durch eine weitere Baumaßnahme um eine Flügelbreite vergrößert werden. 

Die Fülle der Möglichkeiten spricht für den Raum, der Lichtmangel dagegen

Dennoch mickern auch jetzt wieder Gartenkräuter in bunten Tontöpfen. Und der Esstisch dicht am Fenster steht eingerahmt von einer Polstereckbank nebst Korbsesseln und Kinderstühlen. Der Raum gliedert sich in diverse Zonen: Sitzecke, variable Spielbereiche, Küchenzeilenelemente mit Küchenblock. Dieser schafft einen Raum im Raum, ein Davor und Dahinter und praktische Abkürzungen. Zwei bodenlange weiße Vorhänge begrenzen jeweils die Flurfragmente – in Richtung Bad und Schlafzimmer im Seitenflügel bzw. in Richtung Wohnräume im Vorderhausbereich. Zwei schmale raumhohe Bücherregale finden in dem Flurstück zum Seitentrakt Platz. Ein Klavier steht gegenüber vom Esstisch. Die Fülle der Möglichkeiten spricht für den Raum, der Lichtmangel dagegen. Einfallendes Licht kann mit großen Spiegeln aufgefangen und verstreut werden. Gelbnuancen im Interior verstärken das Sonnenempfinden. Üppige Blumensträuße statt darbender Grünpflanzen verzaubern den Alltag. Es sei denn, man lebt den morbiden Reiz des Dunklen und steigert ihn ins Elegante bis Magische mit petrol, violett und grau, mit samtenen Tönen zum Eintauchen, gern auch blau wie die Tiefsee.
Heute lassen sich dank flexibler Möbel und vielfältiger Wohnstile mehr denn je verschiedene Nutzungsoptionen ausprobieren. Der dokumentarische Teil des Buches von Jan Herres belegt das mit Fotografien: Das Berliner Zimmer als Bibliothek, als Musik- und Rückzugsraum oder auch als Wohnzimmer. Die offene Wohnküche aber als Mittel- und Kommunikationspunkt der Familie mag die favorisierte Funktion für diesen Raumtyp sein. Und ja, Balkone lindern den gelegentlichen Höhlenkomplex.
 

Anita Wünschmann

Das Berliner Zimmer, Jan Herres

144 Seiten
ISBN 978-3-86859-707-3
Erschienen im Jovis Verlag
 

 

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