Von Krähen und Menschen

Tiere in der Stadt
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Die Krähenpopulation in Berlin nimmt zu und die Vögel interagieren mit uns Menschen. Sie sind klug, haben ihre eigenen Regeln – und sie erkennen unsere Gesichter.

Zum ersten Mal aufgefallen ist es damals, als das Leben stillstand und keiner raus durfte. Die Straßen waren ohne Leben, der Himmel war leer, nur auf dem Kirchplatz vor dem Fenster gab es gellendes Geschrei. Die Krähen-Gang teilte scheinbar ihr Territorium neu auf. So gut wie immer saß eine Kundschafterkrähe auf dem Laternenpfahl vor dem Fenster. Gegenüber auf dem Giebel des Eckhauses wachten zwei Dutzend Mitglieder auf der Dachkante und warfen schwarze Schatten. Wenn die Kundschafterkrähe rief, kam immer eine Antwort. Nach und nach wurden sie mehr – und sie nahmen auch den Boden in Besitz. Zuerst saßen sie auf dem Kletterturm des Spielplatzes, dann auch auf den Bänken. Groß wie Katzen, windschnittig und mit scharfen Schnäbeln – und für Menschenaugen irgendwie auf etwas wartend.

Später, als das Alltagsleben wieder angeworfen war, verlagerten sie ihr Revier auch zu den Kanten der Hundewiese vor der Kirche. Und so ist es bis heute. Alle paar Meter steht eine, macht ein paar wackelnde Schritte, wenn man vorbeigeht, rückt aber nicht weg und scheint einen leicht provokant zu mustern. „Pass auf“, sagt eine Freundin, „die können sich Gesichter merken. Wenn du denen was tust, kommen sie mit der ganzen Gang und rächen sich.“

In Berlin gibt es mehrere Zehntausend einheimische Krähen, so schätzen Fachleute. Ihr Ruf hört sich etwa an wie: „kräh, kräh“. Die Population hat sich in den letzten 25 Jahren fast verdoppelt. Der Grund: Viele Felder im Umland, wo einst ihre Brutplätze lagen und sie genügend Futter fanden, wurden zugebaut. Das trieb die Vögel in die Stadt. Hier finden sie nicht nur unbegrenzt Nahrung. Berlin verfügt auch – gerade in Neubaugebieten – über viele und oft hohe Bäume, wo die Krähen gut nisten können. Einzelne Tiere können bis zu dreißig Jahre alt werden, im Durchschnitt sind es etwa 15. Unter den einheimischen Krähen am verbreitetsten ist die grau-schwarze Nebelkrähe. Sie ist, wie alle Artgenossen, ein Allesfresser. Im Winter kommen fast nochmal so viele Saatkrähen aus Osteuropa dazu, die hier warten, bis zuhause die Böden wieder auftauen. Wenn ihre riesigen Schwärme gemeinsam auffliegen, sieht man eine beeindruckende Flugshow. Sie rufen etwas, das wie „raa, raa“ klingt.
 

 

Auch Krähen können lügen

Zwei Krähen an einer Wasserstelle

Krähen sind enorm intelligent, was sich zum Beispiel daran zeigt, dass sie Dinge aus ihrer Umgebung als Werkzeug benutzen, um an ihr Futter zu kommen. Sie werfen Nüsse aus großer Höhe auf Beton, damit sie zerbrechen und zerren Beutetiere auf die Straße, damit sie überfahren und in schnabelgerechte Stücke zerrissen werden. Krähen fressen gerne Aas, auch von Tieren, die größer sind als sie, und dazu brauchen sie Hilfe. Krähen sind auf ähnliche Weise monogam wie Menschen. Sie erkennen einander und kommunizieren sehr differenziert. Sie antworten immer den Rufen ihrer Artgenossen, darum entsteht da, wo Krähen sind, oft großer Lärm.

Krähen haben ein ausgesprochen gutes Gedächtnis. Sie legen Dutzende Vorratsstellen mit Nüssen und Eicheln an, die sie fast alle wiederfinden. Krähen können auch lügen oder tricksen. Fühlen sie sich etwa beobachtet, während sie ihre Nüsse verbunkern, kommt es vor, dass sie stattdessen Steinchen verstecken, um die Beobachter zu täuschen.

Krähen sind geschützt und ihre Nester dürfen nicht zerstört werden. Wenn ihre Jungtiere ausgeflogen sind und die Eltern das Nest verlassen, ziehen andere Vogelarten ein, zum Beispiel Falken. Davor, in der sogenannten „Ästlingsphase“ ungefähr Mitte Mai häufen sich Erlebnisse, in denen Krähen Menschen scheinbar angreifen. Das geschieht unter anderem, wenn Jungtiere, die schon im Geäst herumklettern, aber noch nicht richtig fliegen können, vom Baum auf den Boden fallen. Sie verständigen sich durch Rufe weiterhin mit ihren Eltern und bekommen von diesen auch Futter, sind also nicht in Lebensgefahr. Nähert sich dann ein Mensch, weil er den scheinbar hilflosen Vogel auf dem Boden retten will, kann das die Elternkrähe als Angriff verstehen und die Brut gegen den Menschen verteidigen. Und auch das tut sie auf ausgebuffte Krähenart: Sie fliegen nämlich ihrerseits einen Angriff auf den Menschen, um dessen Aufmerksamkeit vom Jungtier abzulenken, damit es sich in Sicherheit bringen kann. Der Naturschutzbund Deutschland (NABU) empfiehlt, eine junge Krähe, die scheinbar hilflos auf dem Boden sitzt, erstmal ein paar Stunden zu beobachten. Nur, wenn sich in dieser Zeit kein Elternvogel blicken lässt, sollte man die Vogelrettungsstelle informieren.

 

 

Manchmal verwechseln uns 
die Krähen

Die Freundin nimmt auf ihre Spaziergänge, die sie mit ihrem Hund unternimmt, seit einer Weile immer eine kleine Extratüte mit Katzentrockenfutter für die Krähen mit. Wenn sie einen dieser fast unterarmlangen grauschwarzen Vögel auf einem Elektrokasten sitzen sieht, legt sie ein paar Stückchen für ihn hin. Unter den Krähen in ihrem Kiez hat sich das herumgesprochen. Kaum, dass sie sich auf den Weg macht, lungert die erste Kundschafterkrähe diskret im Blickfeld herum. Greift die Freundin nicht gleich nach dem Säckchen mit den Leckereien, gibt die Kundschafterin Laut. Geht es dann nicht schnell genug, fliegt eine andere Krähe auch mal betont dicht am Kopf der Freundin vorbei, ohne sie zu streifen. Ein Wink mit dem Zaunpfahl. Legt sie dann die Knusperstücke aus, ist Ruhe – bis in der nächsten Straße die nächste Gang das gleiche Spiel spielt.

Krähen haben gelernt, dass von einigen Menschen auf diese Weise Futter zu erwarten ist. Sie orientieren sich an optischen Merkmalen – der NABU nennt zum Beispiel auffallend gefärbte Haare oder einen Hund – und nähern sich versuchsweise denen, die ähnlich aussehen. Diese können das, wenn sie nicht damit rechnen, als Angriff einer Krähe interpretieren. Solche Missverständnisse zwischen Krähe und Mensch kann die Freundin allerdings nicht kümmern. Sie ist tierlieb, freut sich über die Kontaktaufnahme der Vögel und will ihnen etwas Gutes tun. Und ein bisschen ist es auch eine Vorsichtsmaßnahme, sagt sie: „Krähen sind nachtragend, das ist wissenschaftlich erforscht.“ Sie haben in Berlin ihre eigene Stadt und wir sind darin nur Passanten. Die Freundin will sie sich gewogen halten. Sicher ist sicher – wer weiß, wozu wir die Freundschaft dieser Tiere nochmal gebrauchen können.

 

Susann Sitzler

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