Am schönsten ist das ganz besondere Licht – das gilt für Venedig in Italien ebenso
wie für die Kolonie Neu-Venedig am östlichen Rand von Berlin. Winterlich tief steht jetzt die Sonne, märchenhaft diesig und gleichzeitig knackig frisch ist die Luft über den Kanälen, in denen sich der blassblaue Himmel und die jahreszeitlich kahlen Bäume und Büsche spiegeln.
Neu-Venedig heißt eine historische Wochenend-Gartenkolonie, unmittelbar zwischen Müggelsee und Dämeritzsee gelegen. Ihren Namen verdankt sie den insgesamt sechs Kanälen und 13 Brücken, darunter auch eine „Rialtobrücke“, die die Anlage prägen und strukturieren. Wie ein Wasserlabyrinth liegen die Wasserwege, die von einem Stichkanal der Müggelspree abgehen, im gesamten Gelände. Gesäumt sind sie von gepflegten Wassergrundstücken mit Wochenendhäuschen, die die Besitzer liebevoll, individualistisch und manchmal auch reichlich kurios ausgebaut haben.
Angelegt wurde die Kolonie 1926 vom Bauamt Köpenick auf einem Stück Ufergrund an der Spree – als Grundstück für Wassersport und Wochenenderholung und zunächst unter dem Namen „Neu-Kamerun“. Die rund fünf Kilometer an Kanälen dienten dazu, das sumpfige Land zu entwässern. Als die ersten Bogenbrücken über die Wasserwege errichtet waren, wechselte man den Namen zu „Neu-Venedig“. Ab 1928 wurden die damals insgesamt 374 Parzellen entweder mit Dauerwohnrecht oder als Wochenendgrundstücke zu günstigen Konditionen angeboten. Ganz so einfach war der Vertrieb trotz der Größe von mindestens 600 Quadratmetern pro Grundstück wohl nicht, denn die „Neue Rahnsdorfer-Boden AG“, die den Vertrieb übernahm, ging, wie die Chronik vermerkt, mehrfach Pleite, so dass irgendwann die Stadt Berlin übernahm.
Eigenwillige Bewohner
Betrieben wird die Anlage seit 1933 bis heute von der „Gemeinschaft der Wasserfreunde Neu Venedig“. Der heutige eingetragene Verein dokumentiert auf seiner Website die Geschichte und die Veränderungen seit der Anfangszeit sehr gründlich – etwa die mehrmalige Verlegung der Vereinsgaststätte und die Organisation der Jubiläumsfeier zum 50. im Frühjahr 1983. Auffallend bei letzterer ist der zurückhaltende Tonfall. Er lässt vermuten, dass Neu-Venedig auch eine Insel abseits der sozialistisch kontrollierten Normgeselligkeit der DDR war.
1960 wurden auf einem innliegenden Teil der Anlage zusätzliche 21 Kleingärten ohne direkten Wasserzugang angelegt. Nach dem Bau der Mauer 1961 gingen alle Grundstücke von West-Berlinern in die Pacht von „ausgewählten DDR-Bürgern“, sprich: SED-Funktionären, über, wie das Berliner Stadtmarketing auf seiner Website erklärt. „Später“ seien sie dann wieder an ihre „rechtmäßigen Eigentümer“ oder deren Erben rückübertragen worden.
Heute besteht Neu-Venedig aus 450 Grundstücken, von denen vor allem an den Außenrändern viele neu und manchmal etwas auftrumpfend bebaut sind. Seit 2003 soll ein neuer Bebauungsplan des Bezirks Treptow-Köpenick allerdings sicherstellen, dass der Charakter der Wochenendsiedlung erhalten bleibt – was auch die Rückbauverpflichtung für zu groß geratene Bauten oder ein Verbot von Dauernutzung in großen Teilen der Anlage beinhaltet und gelegentlich zu Konflikten mit den eigenwilligen Bewohnern führt. Die Spazierwege der geschichtsträchtigen Siedlung sind öffentlich zugänglich und teilweise auch mit Rad oder Auto befahrbar. Allerdings sollte kein neugieriger Besucher vergessen, dass es sich hier um Privatgrundstücke zur Erholung handelt, und daher respektvoll und zurückhaltend zwischen nebelverhangenen Brücken und verwunschenen Sträßchen spazieren.
Im Sommer kann man die Kanäle auch mit dem Kajak oder Kanu befahren. Allerdings tun das zuweilen ziemlich viele Touristen gleichzeitig, was die Lauschigkeit etwas stört. Ein paar Schritte an der frischen Luft im Winter sind dazu eine schöne und stimmungsvolle Alternative. Neu-Venedig ist sehr geeignet für einen kleinen Spaziergang, wenn die Tage kurz und kalt sind. Bezaubernde Aussichten, friedliche Natur und vielerlei Wasservögel sind zu erwarten, dazu betörende Lichtstimmungen und kuriose Bauten aus vielen Jahrzehnten. Und mit ein bisschen Glück ist sogar die Vereinsgaststätte und damit das Herz der Kolonie für einen gutbürgerlichen Köpenicker Winterschmaus geöffnet.